Neues "great game" in Zentralasien?

Verfolgt die deutsche Regierung eigene geo-strategische Interessen in Afghanistan? Darauf deutet eine Analyse von Achim Schmillen hin, die bereits im Mai 2001 erschien. Schmillen ist Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt und langjähriger Vertrauter von Außenminister Joschka Fischer. Die grüne zeitung dokumentiert die Analyse, die zuerst in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 15. Mai 2001 (Seite 10) erschienen ist.

Im Jahr 2015 - ein mögliches Szenario: Die europäische Integration ist weitgehend abgeschlossen. Alle mittelosteuropäischen Staaten sind Mitglieder der Europäischen Union. Die Nato-Ost-Erweiterung ist in enger Kooperation mit Rußland erfolgt. Die Ukraine kooperiert sehr eng mit dem Westen. Die anfänglichen russischen Bedenken gegen die Integration konnten zerstreut werden. Nun verläuft die Grenze des atlantischen Bündnisses und der EU entlang der Russischen Föderation. Knapp fünf Jahre zuvor haben Gotteskrieger der Taliban in Afghanistan, nachdem sie die Nordallianz geschlagen und einen gewaltigen Flüchtlingsstrom in die zentralasiatischen Staaten hervorgerufen hatten, ihre fundamentalistische, religiös-fanatische Ideologie weiter nach Norden verbreitet. Die russische Hoffnung, den Expansionsdrang der Taliban durch die Anerkennung ihrer Herrschaft zu reduzieren, hat sich nicht erfüllt. Vielmehr sind die Taliban ihrem strategischen Ziel einen guten Schritt näher gekommen: der Kontrolle des Ferganatals, das in Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan liegt. Mit der Kontrolle des fruchtbaren Tals können sie die Produktion von Rohopium verstetigen, mit dem sie den europäischen Markt kontrollieren. Weil die europäischen Erdölfelder beinahe vollständig ausgebeutet sind, werden die Vorkommen in Kasachstan und Turkmenistan immer wichtiger. Die Pipelines, die vor wenigen Jahren fertiggestellt wurden, haben eine überragende Bedeutung für Europa.

2001: Zwischen den ressourcenreichen Staaten Zentralasiens und Europa liegen beinahe 4000 Kilometer. Das ist weit weg, und die Konflikte in der fernen Region kommen uns seltsam fremd vor. Aber wenn die europäische Integration und die Nato-Erweiterung den erwarteten Weg nehmen, wird es bald nur noch einen Raum mit einem einheitlichen politischen Willen zwischen Europa und der Region geben, nämlich die Russische Föderation. Jede Instabilität in der Region Zentralasien wird unmittelbare Auswirkungen auf die europäische Politik haben. Zentralasien ist die ethnisch gemischteste und kulturell diversifizierteste Region der Welt. Sie wird beeinflußt von einem Wiederaufkommen eines kruden, lange verschütteten Nationalismus, auf den sich die Machthaber stützen, durch Clans, die Autonomie suchen und nicht vor Abspaltung zurückschrecken. Die Entwicklung wird durch das Vakuum, das nach der Desintegration der Sowjetunion entstanden ist, begünstigt. Die Schwächung der politischen Autorität erlaubte es einer Vielzahl an regionalen, ethnischen und auch politischen Bewegungen, nach der Macht zu greifen. Die Instabilität der Transformationsperiode, ethnische und religiöse Unterschiede, die wachsende Korruption und ein rascher Wettbewerb um Naturvorkommen stellen die Konfliktpunkte der Region dar.

An Hand dieses Bündels wird man verstehen, warum die Region eine enorme Bedeutung für die internationale Sicherheit im 21. Jahrhundert hat. Zumal es sich nicht nur um ein Gebiet mit vielen Bodenschätzen handelt, sondern auch um die "natürliche Kommunikationsbrücke" zwischen Zentralasien, Südasien, China und dem Westen. Ein weiterer Faktor ist der Einfluß in der Region durch Rußland, die Türkei und China. Die Zukunft dieser Länder wird von der Entwicklung Zentralasiens abhängen. Das Interesse Europas muß deshalb darin bestehen, sicherzustellen, daß die Region stabilisiert wird.

Brüchige Staatlichkeit

Zentralasien wird hauptsächlich als zusammenhängende Einheit wahrgenommen, weil es sich bei Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan um ehemalige Sowjetrepubliken handelt. Fast alle Staaten befinden sich in einem unsicheren Zustand; fast alle können mit dem Begriff brüchige Staatlichkeit beschrieben werden. Nicht von ungefähr bezeichnet der ehemalige Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten Carter, Brzezinski, sie als "eurasischen Balkan". Der mit Abstand gefährlichste Krisenherd ist Afghanistan - ein Land, das seit mehr als zwanzig Jahren im Krieg lebt. Der Konflikt wirkt zunehmend destabilisierend in die zentralasiatischen Nachbarstaaten hinein.

Knapp zehn Jahre nach der Unabhängigkeit sind die GUS-Staaten Zentralasiens formal Demokratien. Sie werden von Clans regiert, die eine geringe Reformbereitschaft zeigen und ihre Herrschaft mit allen Mitteln verteidigen. Beobachter berichten über Korruption bis in höchste Regierungskreise, Klientelismus, Nepotismus und Ineffizienz des gesamten öffentlichen Sektors sind ebenso die Folge wie politische und ökonomische Instabilität. Obwohl die Schwierigkeiten meist grenzübergreifend sind, tendieren die Länder zu Alleingängen. Der Ressourcenreichtum, vor allem an Erdöl und Erdgas, macht das Gebiet besonders attraktiv für ausländische Investoren. Die größten Erdölreserven liegen in Kasachstan, die größten Erdgasvorkommen in Turkmenistan. Auch wenn manche Schätzung überzogen sein dürfte, haben die Industrieländer großes Interesse an der Region. Das Ölfeld Tengiz in Kasachstan ist seit den siebziger Jahren das gewaltigste der Welt. Die Reserven werden auf sechs bis neun Milliarden Barrel geschätzt. Das Öl auf den europäischen Markt zu bringen, hängt an drei Faktoren: am Transport, der damit verbundenen Beteiligung der großen Mächte und der potentiellen Instabilität der Gegend.

Die Regierungen der zentralasiatischen Staaten sind häufig nicht in der Lage, die Grenzen zu kontrollieren. Der Schmuggel von Rauschgift und Waffen ist an der Tagesordnung. Afghanistan ist zum größten Produzenten (79 Prozent) von Opiaten geworden; ungefähr 90 Prozent der westeuropäischen Opiate kommen von dort. In Tadschikistan sollen die Einkünfte aus dem Rauschgifthandel mittlerweile ein Sechstel des gesamten Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Auch für die Taliban ist die Drogenproduktion eine wichtige Einnahmequelle. Sie kontrollieren fast alle Schlafmohn-Anbaugebiete. Im Jahr 1999 wurden aus Drogenanbau ungefähr 95 Millionen Dollar erwirtschaftet. Die mit dem Drogengeschäft einhergehende Korruption und organisierte Kriminalität unterhöhlen die ohnehin brüchige Staatlichkeit.

Die größte Gefahr für die Region geht vom militanten islamischen Fundamentalismus aus. Wichtigster Akteur ist das Taliban-Regime in Afghanistan, das Lager für militante islamistische Gruppen auf afghanischem Boden duldet und fördert, wo diese für Einsätze in den zentralasiatischen Republiken, Tschetschenien, Xinjiang (China) und im indischen Teil Kaschmirs ausgebildet werden. Auch in Usbekistan sind die islamischen Fundamentalisten stark. Kasachstan hat Furcht vor einer gewachsenen, grenzüberschreitenden und radikalislamischen Bedrohung. Die Gefahr durch international operierende Terroristen hat sich vom Nahen Osten in den westlichen Teil Südasiens, insbesondere nach Afghanistan, verlagert. So residiert auch der saudiarabische Millionär Ibn Ladin im Herrschaftsgebiet der Taliban. Die Region ist zudem ein potentieller Umschlagplatz für Waffen, auch für Massenvernichtungsmittel. Von Afghanistan aus werden Waffen an befreundete radikalislamische Organisationen in den zentralasiatischen Staaten geliefert.

Zentralasien ist eine ökologische Katastrophenzone. Auf dem Atomtestgelände Semipalatinsk in Kasachstan wurden bis 1963 mehr als 500 oberirdische und bis 1989 viele unterirdische Atombomben getestet. Kasachstan produziert Uran und hat erhebliche radioaktive Altlasten aus der Sowjetzeit übernommen. Die Region leidet zudem unter gewaltigem Wassermangel durch Übernutzung und Verschmutzung. Das Katastrophensymbol schlechthin ist der Aralsee. Dem regionalen Wassersystem ist zur Erweiterung der Landwirtschaft, insbesondere des Baumwollanbaus, seit den sechziger Jahren so viel Wasser entnommen worden, daß der Zufluß der beiden Hauptströme zum Aralsee stark zurückgegangen ist. Die fortschreitende Degradierung des Aralseebeckens führt schon heute zu steigenden Spannungen zwischen den Anrainerstaaten.

Die Länder Zentralasiens sind multiethnische Staaten, die durch umstrittene Grenzverläufe getrennt werden. In der Gesamtregion gibt es ungefähr 16 Millionen Einwohner und mehr als 50 unterschiedliche ethnische und sprachliche Gruppen. Da es dort im Vergleich zum Kaukasus an einem gewachsenen Nationalismus fehlt, können die Menschen leicht durch die Religion mobilisiert werden. Die Religion spielt deshalb eine besondere politische und soziale Rolle. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat die Staaten mit ihren ethnischen Konflikten allein gelassen.

Das Konzept der eisernen Faust

In Reaktion auf die jahrzehntelange autoritäre Kontrolle sind bisher keine anderen Konzepte als die "eiserne Faust" gefunden worden, um mit ethnischen Spannungen umzugehen. Diese Spannungen führen immer wieder zu gewaltsamen Eruptionen, die zum Teil Flüchtlingsströme hervorrufen; der größte wurde durch den Krieg in Afghanistan verursacht. Die radikalislamischen Taliban haben durch Terror und Krieg mehr als 20 Prozent aller Afghanen ins Ausland getrieben. Davon leben etwa 1,5 Millionen in Iran und 1,3 Millionen in Pakistan, wo sie die innere Stabilität belasten. Gelingt es den Taliban, die Nordallianz vernichtend zu schlagen, ist mit weiteren Flüchtlingsströmen in Richtung Iran, aber auch Usbekistan und Tadschikistan zu rechnen.

Im 19. Jahrhundert gab es einen hegemonialen Wettlauf zwischen Rußland und Großbritannien um die Kontrolle der gesamten Region. Diesen Wettlauf nannte man "great game". Der Kampf um ökonomische Vorteile, um neue Arbeitsplätze, neue Pipelines, den Energiemarkt und letztlich um politischen und religiösen Einfluß könnte zu einem neuen "great game" führen. Es gibt zwei bedeutende geopolitische Faktoren, die für die Entwicklung der Region von Bedeutung sind: Erstens haben die zentralasiatischen Staaten keinen Zugang zum Meer. Sie brauchen Verbindungs- und Handelswege, um am internationalen Handel teilnehmen zu können. Die Handels- und Routensicherheit kann nur durch Zusammenarbeit zwischen den Staaten geschaffen werden. Zweitens ist die Region eine klassische Pufferzone. Sie trennt Europa vom indischen Subkontinent, von China und Ostasien.

Die Taliban haben mit massiver pakistanischer und arabischer Unterstützung bisher mehr als 95 Prozent des Staatsgebietes erobert, kontrollieren es aber nur rudimentär, da sie sich nur bedingt gegenüber den Herrschaftsansprüchen traditioneller Clans durchsetzen können. Unter dem Regime werden Mädchen und Frauen in beispielloser Weise diskriminiert. Folter, Entführungen, Plünderungen, Verfolgung aufgrund ethnischer Herkunft sind allgegenwärtig. Die Ursachen des Afghanistan- Konfliktes sind vielschichtig. Einflußnahme und Interventionen des Auslandes hat es in der Geschichte des Landes immer wieder gegeben. Alle Nachbarstaaten haben ein Interesse an Afghanistan als Scharnier zwischen dem Mittleren Osten, Zentral- und Südasien. Dadurch und aufgrund seiner ethnischen Zersplitterung hatte das Land kaum die Möglichkeit, eine eigene Staatlichkeit zu entwickeln. Rußland hat als Nachfolger der Sowjetunion ein überragendes Interesse, seinen ökonomischen und politischen Einfluß auf die früheren Republiken zu erhalten. Es nimmt allerdings eine ambivalente Rolle zwischen Ausnutzung des Konflikts und der Vermittlung zwischen den Parteien ein. Dabei sind Tendenzen zu erkennen, daß Rußland die Region als Hinterhof und als Pufferzone gegenüber der islamischen Gefahr begreift. Moskaus Politik wird von zwei Faktoren angetrieben: Zum einen sollen die ethnischen Russen in Zentralasien geschützt werden, zum anderen soll die Kontrolle über Energieressourcen und Transportwege gewonnen werden. Rußland hat erkannt, daß eine weitere Destabilisierung sowohl im Süden der Föderation als auch in den südlichen Nachbarstaaten die eigene Stabilität gefährdet. Russische Fachleute nehmen an, daß sich die Taliban noch im Laufe des Jahres 2001 gegen die Nordallianz durchsetzen. Wie Rußland in diesem Fall reagieren wird, ist unklar. Es gibt Modelle für eine Anerkennung der Taliban wie für eine militärische Lösung. Obwohl Rußland klare politische und ökonomische Ziele hat, gelingt es ihm nicht, sie in eine konsistente Politik umzumünzen.

Die Volksrepublik China befindet sich seit dem Zerfall der Sowjetunion in der sicherheitspolitisch vorteilhaftesten Lage ihrer Geschichte. Die Grenze mit Rußland hat sich seit der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Sowjetrepubliken deutlich verkürzt. Pekings Interessen sind vornehmlich sicherheitspolitischer Natur. Die Gegend wird als strategisches Vorfeld der unruhigen chinesischen Westprovinz Xinjiang betrachtet. China möchte ein Übergreifen islamistisch- fundamentalistischer Strömungen nach Westchina verhindern. Als wachsender Importeur von Erdöl aus der Golfregion hat Peking zudem Interesse an einer Diversifizierung seiner Erdölimporte, zumal der chinesische Energiebedarf in den nächsten Jahren dramatisch zunehmen wird.

Die Vereinigten Staaten haben in den vergangenen Jahren eine auffallend diffuse Rolle gespielt. Die Unterschrift unter Verträge zwischen amerikanischen Ölfirmen und der Regierung von Kasachstan und der von Aserbaidschan 1993/94 aber haben die Region in das Bewußtsein amerikanischer Entscheidungsträger gebracht. Die Vereinigten Staaten sind aus mehreren Gründen an der Region interessiert: Neben der Rohstoffsicherung und Erschließung neuer Vorkommen wollen sie Zentralasien stabilisieren und die Entwicklung einer Ost-West-Energie- und -Transportverbindung voranbringen. Der russische Einfluß soll verringert, die dortigen Staaten sollen gestärkt werden. Das Engagement ist aber eindeutig auf ökonomische Ziele konzentriert, weil man die Abhängigkeit von arabischen Erdölquellen zu vermindern sucht.

Die Türkei betrachtet sich als natürlicher Partner

Die Türkei betrachtet sich als natürlichen Partner und als regionale Führungsmacht für einige Nachfolgeregionen der Sowjetunion. Dabei versucht die Türkei, sich als Fenster oder Brücke zur internationalen Gemeinschaft zu etablieren. Allerdings ist der türkische Versuch, Einfluß zu gewinnen, dadurch begrenzt, daß Ankara nicht die erforderlichen finanziellen und technischen Mittel aufbringen kann.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß die geostrategische Bedeutung der Region künftig die politische, ökonomische und sicherheitspolitische Bedeutung übertreffen wird. Noch hat keine bedeutende Macht die Region als ein Gebiet von vitalem Interesse definiert, wodurch sich allerlei Chancen ergeben. Ein politisches Konzept für die Region muß auf der Qualität und Dichte der Interessen aufbauen, auf den Stabilitätsfaktoren in der Region und den Möglichkeiten Deutschlands und der EU, zu einer stabilen Ordnung beizutragen. Der EU ist daran gelegen, die Energieimporte durch die Erschließung der Erdöl- und Erdgasreserven in der zentralasiatischen und kaspischen Region zu diversifizieren. Europa hat zudem großes Interesse an der Eindämmung der Rauschgiftzufuhr, der organisierten Kriminalität, des internationalen Terrorismus. Um das durchzusetzen, muß die Region stabilisiert werden. Das kann vorrangig durch verbesserte staatliche Strukturen und durch intensivere Zusammenarbeit erreicht werden.

Die EU und auch Deutschland werden sich dafür einsetzen, daß die Überlebensfähigkeit der zentralasiatischen Staaten gestärkt wird. Die Förderung regionaler Kooperation und die Unterstützung für den Zugang zum Welthandel sowie Hilfe bei der Lösung von humanitären, sozialen und ökologischen Schwierigkeiten sind unmittelbare politische Ansätze. Europa sollte die in der Region aktiven Unternehmen ermuntern, eine zukunftsfähige Öl- und Gasindustrie sowie ein multipolares Pipeline- System - unter Einschluß russischer Unternehmen - aufzubauen. Die europäischen Erfahrungen bei der Prävention regionaler Konflikte wären ein sinnvolles Angebot. Die Grenzen unserer eigenen Handlungsmöglichkeiten müssen klar sein. Für eine Politik, die Stabilität und Kooperation schaffen möchte, müssen andere Akteure, vor allem Rußland, China und die Vereinigten Staaten, gewonnen werden. Nur dann läßt sich ein breiter Lösungsansatz finden.



20.11.2001


zurück


Seitenanfang