Die Austrittswelle rollt - Annette Gille

Hiermit erkläre ich meinen Austritt aus der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Liebe Hinterbliebene, ich vermute, ihr wisst, dass dieser Brief nur eine Frage der Zeit war. In den letzten Wochen habe ich einfach nur beobachtet, was auf der (grünen) politischen Bühne geschah, und ständig déjà-vu-Erlebnisse gehabt. Es schien sich alles zu wiederholen, was 1999 schon einmal passiert war.

Überrascht war ich ein wenig von der Entscheidung Schröders, die Vertrauensfrage mit der "Sachfrage" zu verknüpfen - bei Einzelentscheidung hätte er für beide Abstimmungen breitere Mehrheiten bekommen. So hat er eine dünne Mehrheit für seine "uneingeschränkte Solidarität" und die Aktionen, die daraus folgen, und außerdem hat er die Mehrheit des Bundestages praktisch gezwungen, gegen das eigene Gewissen zu stimmen.

Aber es gehören immer noch zwei dazu, einer der zwingt, und einer, der sich zwingen läßt. Bei dieser Abstimmung hätten die grünen Abgeordneten tatsächlich (wenn auch nur vorübergehend, da hab ich keine Illusionen) einen Kriegseinsatz der Bundeswehr verhindern können - aber sie haben es nicht getan. Das zu begreifen, war bitter, und auf Antikriegskundgebungen deshalb kein Argument mehr gegen böse "Grüne-sind-Kriegstreiber"-Slogans zu haben, das war noch bitterer.

Ich brauche manchmal lange, bis ich begriffen habe, dass es keine Hoffnung mehr gibt, und dass weiterkämpfen nicht mehr lohnt. Ich bin in eine Partei eingetreten, die sich basisdemokratisch nannte, wo die Fraktionen das Parteiprogramm durchsetzen sollten/wollten. Seit einigen Jahren macht Joschka Fischer das Programm, und die Fraktion hat dann das Problem, "die Partei mitzunehmen" (so formulierte Kerstin Müller es vor der BDK). Diese Last werde ich ihr etwas erleichtern. Aber ich laß mir auch nicht eine "Verantwortung" aufdrücken für etwas, das andere beschlossen haben, bevor ich überhaupt die (theoretische) Chance hatte, meine Meinung zu äußern. Nicht zuletzt enttäuschte mich Claudia Roth, als sie in Pakistan vor den Kameras ihre Bedingungen formulierte, unter denen Grüne bzw. sie selbst einer Kriegsbeteiligung zustimmen würde - diese Bedingungen wurden schon im 2. Golfkrieg und in den Jugoslawien-Einsätzen nicht eingehalten, und sie können auch nicht eingehalten werden. Und wenn Claudia Roth jetzt nach der BDK-Abstimmung sagt, daß es gelungen sei, die Kritiker des Bundeswehr-Einsatzes zu integrieren, hat sie ebenfalls unrecht. Wenn die kritischen Stimmen in der Partei immer weniger werden, so hat das schlicht damit zu tun, daß diese Stimmen nicht mehr in der Partei sind.

Regierungsbeteiligung ist Koalitionspolitik und hat immer mit Kompromissen zu tun, auch mit schmerzhaften. Ich habe nichts gegen Kompromisse, aber ich verlange, dass sie auch so genannt werden - und uns nicht als grüne Politik verkauft werden und letztendlich ins Parteiprogramm eingehen.

Ich habe dazu einen Artikel von Anfang 99 wiedergefunden, den ich damals zwar geschrieben, aber nicht in den Rundbrief gesetzt hatte. Konkret geht es darin um die Vorgänge rund um die Erfurter BDK, aber der beschriebene Mechanismus funktionierte schon bei anderen Themen und scheint jetzt der normale Weg der innerparteilichen Meinungsbildung zu sein. Manchmal weiß ich schon lange, bevor ich begreife...ich leg den Text bei.

Falls es eine Strichliste gibt, wieviele Austritte mit "Rostock" begründet werden, setzt mich mit drauf, auch wenn mich die Rostocker Entscheidung nicht mehr enttäuscht hat, weil ich nichts anderes erwartet hatte.

Nun gut. Ich wünsche allen, die noch den Willen haben, innerhalb der grünen Partei für die Grundwerte zu streiten, deretwegen nicht nur ich Grüne geworden bin, ganz viel Kraft und Energie dafür. Von mir wird es weiterhin Unterstützung und Werbung für die eigentlichen grünen Ziele geben, z.B. für die Agrarwende, Tierschutz, den echten Atomausstieg, Friedensarbeit, Antifaschismus...

Von der Partei verabschiede ich mich, von der Politik nicht.

29.11.01



08.12.2001


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